Leben und Schicksal

Hinten raus hat es dann doch länger gedauert als nach dem raschen Start zu Beginn des Jahres erhofft (2-monatige Pause zwischendurch), aber nun habe ich Leben und Schicksal, den zweiten Teil von Wassili Grossmans Stalingrad Duologie, an jenem Abend zu Ende gelesen, als die tapferen Schweizer von den Engländern aus dem UEFA EURO Turnier befördert wurden.

Grossman hat die Niederschrift von Leben und Schicksal 1960 beendet, wesentlich später als Stalingrad (1947?), und so ist ein ein düstererer, dunklerer Roman entstanden, weil nicht mehr der Sieg über Nazi-Deuschland alles überstrahlt, sondern das Wissen um die darauffolgende stalinistische Terrorherrschaft deutlich erkennbar wird. Dies wird nicht explizit beschrieben, denn der Roman endet mit dem Sieg bei Stalingrad, aber die Finsternis ist spürbar: der Hurra-Patriotismus des ersten Romans weicht einer bleiernen Schwere. Nach dem Sieg ist vor der Unterdrückung.

Es gibt immer wieder hinreissende bis erschütternde Passagen. Zwei kleine Bespiele:

Im Lager unter Kriegsgefangenen.

Je mehr sie redeten und stritten, umso weniger verstanden sie einander. Später schwiegen sie nur noch, voller Hass und Verachtung füreinander.
In diesem Schweigen von Stummen, in diesem Reden von Blinden, in diesem von Grauen, Hoffnung und Verzweiflung zusammengeschweissten Menschenhaufen – Menschen, die die gleiche Sprache sprachen und doch einander nur mit Unverständnis und Hass begegneten – offenbarte sich auf tragische Weise eine der grossen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.

S. 37

In der Gaskammer. So was habe ich vorher noch nie gelesen.

David sah, wie sich die Tür schloss: Weich glitt die Stahltür, wie von einem Magnet gezogen, auf den stählernen Türrahmen zu, bis beide miteinander verschmolzen.
David bemerkte, dass sich im oberen Teil der Wand hinter einem quadratischen Drahtnetz etwas bewegte. Erst dachte er, es sei eine Ratte, doch dann begriff er: Man hatte den Ventilator eingeschaltet. Ein schwacher, süßlicher Geruch breitete sich aus.
Das Schlurfen der Schritte war verstummt, nur hin und wieder hörte man undeutliche Worte, Stöhnen, kurze Aufschreie. Die Menschen brauchten keine Worte mehr. Auch Handeln war sinnlos geworden, es hätte in die Zukunft gewiesen, und eine Zukunft gab es in der Gaskammer nicht. Die Bewegungen von Davids Kopf und Hals weckten in Sofja Ossipowna nicht mehr den Wunsch, dorthin zu blicken, wohin ein anderes Lebewesen blickt.
[…]
Die ganze Zeit hielten ihn kräftige, heiße Hände umschlungen, David begriff nicht, dass es dunkel wurde in seinen Augen, dass es im Herzen zu dröhnen begann, dass sein Gehirn stumpf wurde und blind. Man hatte ihn getötet.
Sofja Ossipowna spürte, wie der Körper des Jungen in ihren Armen zusammensackte. Wieder war sie von ihm getrennt worden. In unterirdischen Stollen mit vergifteter Luft zeigen Vögel und Mäuse das Gas an, sie haben nur kleine Körper und sterben sofort, und so war auch der Junge mit seinem kleinen Vogelkörper vor ihr gegangen.
“Ich bin Mutter geworden”, dachte sie.
Es war ihr letzter Gedanke.
Aber in ihrem Herzen war noch Leben: Es zog sich zusammen, schmerzte und bedauerte alle, Lebende und Tote. Brechreiz stieg in ihr auf, Sofja Ossipowna drückte David an sich, eine Puppe. Und war nun auch tot, eine Puppe.

S. 673/674